Der Favorit hat gewonnen: Das Stockholmer Nobel-Komitee vergab den Nobelpreis für Physik für die Vorhersage des Higgs-Teilchens (Boson) an den englischen Namensgeber Peter Higgs (Edinburgh) und seinen belgischen Kollegen Francois Englert (Brüssel). Die beiden Physiker haben unabhängig voneinander im Jahr 1964 durch theoretische Überlegungen und höhere Mathematik ein Problem gelöst, das noch heute als zentrale Antwort auf die Fragen zum Zusammenhalt der Welt und des Universums gilt. Deshalb wird das Higgs-Teilchen gern als Gottesteilchen bezeichnet: Weil es dafür sorgt, dass die Atome, die Grundbausteine des Lebens, existieren können und nicht mit Lichtgeschwindigkeit auseinander driften. Die Physiker meiden zwar das Wort Gottesteilchen, aber sie räumen gern ein, dass das derzeitig gültige Theoriegebäude für den Aufbau der Materie ohne die Existenz des Higgs-Teilchens komplett einstürzen würde.
Einige Beobachter hatten erwartet, dass nicht nur die Vordenker des Higgs-Teilchens mit dem Nobelpreis ausgezeichnet würden, sondern auch die Forscher am europäischen Teilchenbeschleuniger CERN in Genf, wo im Juli 2012 mit dem größten je von Menschenhand gebautem Experiment erstmals der Nachweis des Higgs-Teilchens gelang. Mehr als 5000 Forscher jagten in einer 27 Kilometer langen Röhre Teilchen mit fast Lichtgeschwindigkeit aufeinander zu. In den Trümmern des Zusammenpralls wurden tatsächlich Higgs-Teilchen gefunden, die nach nur wenigen Bruchstücken einer Sekunde bereits wieder zerfallen waren. Aber es gehört zu den Regeln des Nobel-Komitees, dass nur neue Entdeckungen ausgezeichnet werden, nicht aber der Beweis oder die Verwendung von bereits bestehenden Theorien. Am CERN wurde trotzdem gefeiert.
Seit diesem 4. Juli 2012 war klar, dass der Physik-Nobelpreis nur an Peter Higgs gehen konnte, einem bescheidenen schottischen Forscher, der fast 50 Jahre warten musste, bis sein Geistesblitz auch experimentell als richtig nachgewiesen werden konnte. Higgs ist mittlerweile 84 Jahre alt, Englert schon 81. Robert Brout, der mit Englert in Brüssel zusammenarbeitete, starb 2011 - sonst wäre er heute auch ausgezeichnet worden. Higgs konnte sich also lange auf diesen Tag vorbereiten, und deshalb fuhr er in Urlaub, wie die Uni Edinburgh mitteilt. Eine schwere Bronchitis und ein Sturz vor der Haustür seien gerade erst überstanden, der Professor wolle den Rummel um seine Person nicht.
Das war immer schon so. Seine seltenen Vorträge stellte Peter Higgs in den vergangenen Jahren unter den Titel "Mein Leben als Boson", denn das war es. Higgs ist immer der Wartende, der nur hoffen durfte, das andere durch kühne Ingenieurleistungen sein Lebenswerk vollenden. Er selbst hat nach seinen beiden kurzen Aufsätzen, die die Existenz eines Higgs-Feldes erklären wollten, kaum noch etwas zur Weiterentwicklung seiner Arbeit beitragen können. Die modernere Mathematik sei ihm zu kompliziert , das sei mehr etwas für Jüngere, sagte Higgs - damals war er Mitte 40. Higgs lehrte weiter an der Universität Edinburgh, versuchte seine Theorie zu erklären, woran die meisten Studenten scheiterten. Das lag aber nicht Higgs' Unvermögen, sondern am komplizierten Thema. Das seltsame Wesen der Kräfte und Quarks und das überall existierende Higgs-Feld eröffnet sich nur Spezialisten.
In seinen Vorträgen erzählt Higgs gern von den hektischen Tagen im Sommer 1964, als eine Handvoll Theoretiker das Standardmodell der Physik zur Erklärung des Aufbaus der Welt vor dem Untergang retteten. Eine besondere Rolle spielt daran ein Aufsatz, den Higgs am 16. Juli in einer physikalischen Fachzeitschrift gelesen hat. Es gehörte damals zu seinen Aufgaben, die neue Literatur in die Regale Uni-Bibliothek einzuräumen. Damals wurde Higgs das Problem der Theorie offenbar. Das war ein Donnerstag, das ganze Wochenende quälte ihn die Idee, dass es doch eine Lösung geben würde. Am folgenden Freitag, dem 25. Juli 1964, schickte er seinerseits einen Aufsatz an die Fachzeitschrift. Eine Woche später legte er eine präzisere Version seiner Lösung nach, die noch als unmöglich abgelehnt wurde. Erst als er ein paar Absätze einfügte, wurde sein Manuskript Ende August doch akzeptiert. Fast zeitgleich erschienen auch der Beitrag von Brout und Englert. Higgs hat wohl Glück gehabt, dass der viel gesuchte Bestandteil der Materie nun seinen Namen trägt, vermutlich weil Higgs einfacher ins Ohr geht als Brout und Englert. In knapp zwei Jahren setzten sich die neuen Erkenntnisse durch, die Higgs im März 1966 an zwei US-Elite-Universitäten gegen seine Kritiker verteidigte. Als er dort hinfuhr, sei er so nervös gewesen, dass er die Fahrt mit dem Auto mehrfach unterbrechen musste.
Die drei Forscher, die seine Theorie vollendeten, gingen leer aus, weil sie erst später ihre Überlegungen veröffentlichten. Tim Kibble, Gerald Guralnik und Carl Richard Hagen konnten heute nur artig gratulieren und verwiesen darauf, dass das Nobelkomitee im Dilemma steckt, maximal drei Forscher auszeichnen zu dürfen. Zurecht - diesmal wären fünf Preisträger besser gewesen. Peter Higgs hat übrigens den Begriff Higgs-Teilchen genau deshalb abgelehnt. Er versuchte erfolglos ein Kunstwort mit den Anfangsbuchstaben der sechs Forscher durchzusetzen.