Bonner Wissenschaftler entwickeln einen neuen Test für mögliche Alzheimer-Medikamente direkt an menschlichen Gehirnzellen. Es soll bessere Ergebnisse liefern als der Tierversuch.

 

Von Rainer Kurlemann

 

Der entscheidende klinische Test dauerte 18 Monate. 1684 Patienten mit einer milden Form der Alzheimer-Krankheit nahmen daran teil. Doch dann musste US-Pharma-Hersteller Myriad eingestehen, dass er große Hoffnungen in ein neues Arzneimittel gesetzt hatte, aber der Wirkstoff die Erwartungen nicht erfüllen konnte. Solche Enttäuschungen gehören zum Alltag für die Entwickler von Medikamenten. Jahrelange Arbeit entpuppt sich als sinnlos, wenn die positiven Effekte aus dem Tier-Experiment beim Menschen ausbleiben.

Oliver Brüstle kennt diese Probleme. "Tests mit Tiermodellen lassen sich kaum auf die Vorgänge im menschlichen Gehirn übertragen", sagt der Stammzellforscher an der Uni Bonn. Er hat deshalb die Wirksamkeit möglicher Alzheimer-Medikamente direkt an menschlichen Gehirnzellen überprüft. Dieses neue Testsystem könne die langwierige Suche nach dringend benötigten Medikamenten gegen die Demenz-Krankheit deutlich verkürzen, erklärt Oliver Brüstle bei der Vorstellung einer Studie, die auch den Myriad-Fall umfasst.

Alzheimer eignet sich gut für die Forschung an einzelnen Zellen. Bei dieser Krankheit bilden sich Ablagerungen, die Forscher beta-Amyloide (Plague) nennen und die die Leistung des Gehirns stark beeinträchtigen. Diese Ablagerungen entstehen nicht auf einmal, sondern sind das Ende eines Prozesses mit mehreren Zwischenstufen, bei denen die Amyloide stetig größer werden. Nach bisherigem Verständnis von Alzheimer ist die Länge der Amyloide ein Maßstab für den Fortschritt der Erkrankung - und diese Länge lässt sich in der Nervenzelle leicht messen.      

Deshalb züchteten die Bonner Forscher im Labor auf verschiedenen Wegen Nervenzellen des Gehirns. Zwei Patienten mit einer erblichen Form der Alzheimer-Krankheit spendeten Hautzellen, die das Team von Oliver Brüstle in Gehirnzellen umwandelte. Solche Neuprogrammierungen von Zellen haben sich mittlerweile weltweit etabliert, für Herz und Nerven gelingen sie besonders gut. Die Methode entstammt der Forschung an Stammzellen, ihr Begründer Shinya Yamanaka erhielt vor zwei Jahren den Medizin-Nobelpreis (ips-Zellen). Auch aus embryonalen Stammzellen des Menschen erzeugten die Forscher Gehirnzellen.

Damit konnte der eigentliche Test beginnen. Die Wissenschaftler behandelten die Gehirnzellen mit zehn Medikamenten. Zwei davon, Indometacin und Flurbiprofen, galten nach Tierversuchen als aussichtsreiche Kandidaten für den Kampf gegen Alzheimer. Myriad konnte mit Flurbiprofen im Jahr 2008 die Folgen der Demenz-Erkrankung in Mäusegehirnen mildern. Und weil das Arzneimittel zu einer anderen Klasse als die bisher verwendeten Präparate gehört, wähnten sich die Forscher gar schon am Anfang einer neuen Therapie gegen Alzheimer.

Doch warum verringerte Flurbiprofen bei Tieren die Gefahr von Ablagerungen im Gehirn, funktioniert aber nicht in menschlichen Zellen? Diese Frage können auch die Bonner Forscher nicht genau beantworten. Sie vermuten, dass sich die Vorgänge in den Zellen menschlichen und tierischen Ursprungs einfach zu stark voneinander unterscheiden.

"Gehirnzellen sind dabei kein Einzelfall", berichtet Christine L. Mummery, Stammzellforscherin aus dem niederländischen Leiden. Für die Behandlung der Sepsis habe kein einziger Wirkstoff, der bei Tieren erfolgreich war, auch in klinischen Prüfungen beim Menschen überzeugen können, sagt sie. Christine L. Mummery arbeitet nach einem ähnlichen Verfahren ihre Bonner Kollegen - allerdings mit Herzzellen. Sie untersucht die Gefahr von Herzrhythmusstörungen als Nebenwirkung von Medikamenten.

Auch ihre Methode hat den Härte-Test bereits bestanden. Das Ergebnis einer Blindstudie an der Universität Leiden verwunderte selbst die erfahrenen Pharma-Hersteller. "Wir konnten aus uns unbekannten Substanzen genau diejenigen als gefährlich identifizieren, die auch als Medikament vom Markt genommen werden mussten", berichtet Christine L. Mummery. Die Pharma-Firmen hatten der Uni-Klinik die 20 Arzneistoffe überlassen, bei denen erst der millionenfache Einsatz am Patienten die Gefahr der Herzrhythmusstörungen offenbarte  - in 18 Fällen lieferten die EKG-Messungen an den schlagenden Herzzellen in der Petrischale sofort das richtige Ergebnis.

Noch ist nicht klar, welche Rolle die Medikamententests mit Stammzellen am Ende in der Pharma-Entwicklung spielen können. Sicher werden sie Tierversuche nicht ablösen, weil einzelne Zellen die Nebenwirkungen am gesamten Organismus nicht widerspiegeln können. Oliver Brüstle hat noch ein anderes Ziel: "Mit dieser Technik können wir in großen Mengen Nervenzellen von Alzheimer-Patienten kultivieren und deren Funktionseinschränkungen im Lebendzustand untersuchen", sagt er. Vielleicht lassen sich mit diesen lebenden Nervenzellen, die an Alzheimer erkrankt sind, weitere Hinweise zur Entstehung der Demenz finden. "Bisher waren solche Untersuchungen nur an Zellproben möglich, die nach dem Tod über eine Autopsie gewonnenen wurden", sagt Brüstle.