Münster. Hans Schöler ist es gewöhnt, sein kompliziertes Fachgebiet mit einfachen Worten zu erklären. Für seine neueste Entdeckung klingt das so: "Wir haben einfach den Kapitän ausgewechselt", sagt der Stammzellforscher, "und der Neue hat das Schiff dann unter seinen Befehl gebracht."
Das Schiff ist in diesem Fall eine Körperzelle der Maus, die bisher die Aufgaben einer Hautzelle erfüllt hat. Den neuen Kapitän nennen die Wissenschaftler eigentlich "Wachstumsfaktor" und als solcher steuert "Brn4" für gewöhnlich Nervenzellen. Das Team von Hans Schöler am Max-Planck-Institut in Münster hat "Brn4" und ein paar Helferstoffe in die Mauszelle eingeschleust und so die Hautzelle als Nervenzelle programmiert.
Forscher aus Dresden und Südkorea haben bei der Kontrolle der Arbeit bereits bestätigt, dass die neue Nervenzelle von einer natürlich vorkommenden Zelle kaum noch zu unterscheiden ist. Je häufiger sich die Zellen unter dem Einfluss des Wachstumscocktails teilen, desto mehr verlieren sie ihre Erinnerung daran, dass sie mal eine Hautzelle waren, erklärt Schöler. Diese neuen Zellen sollen später einmal erkrankte Nervenzellen ersetzen und etwa damit die Behandlung von Parkinson ermöglichen.
Mit ihrer Entdeckung haben die Münsteraner ein Dogma der Biologie endgültig beseitigt, das da hieß: Wenn eine Zelle einmal eine Aufgabe übernommen hat, ist das nicht mehr rückgängig zu machen. Das bedeutete: Wer neue Körperzellen erzeugen will, muss den Umweg über die Ursprungsform aller Zellen gehen und embryonale Stammzellen einsetzen.
Das ist in Deutschland nicht erlaubt und weltweit umstritten, weil bei der Herstellung dieser Zellen menschliche Embryonen getötet werden müssen. Der Europäische Gerichtshof hatte im Oktober in einer Grundsatzentscheidung Patente auf embryonale Stammzellen für sittenwidrig erklärt – und damit die Attraktivität des neuen Therapieansatzes für die Pharmaindustrie erheblich verringert.
Jetzt aber könnte alles anders werden: "Die Regeneration oder der Ersatz bestimmter Gewebetypen wird deutlich einfacher", sagt Schöler im Gespräch mit unserer Zeitung. Zwei Aufgaben stehen als nächstes an: Zum einen die Übertragung der Arbeit auf menschliche Zellen – was aller Voraussicht nach funktionieren sollte, denn damit hat die Münsteraner Gruppe viel Erfahrung. Und zum anderen der Versuch, mit den neuen Zellen kranke Mäuse zu behandeln. "Der Blick auf die Therapie wird immer stärker", beschreibt Schöler die Wandlung in der Stammzellforschung, die so langsam ein zweites Bein neben der reinen Grundlagenforschung aufbaut.
Der therapeutische Einsatz ist 14 Jahre nach der Entdeckung der embryonalen Stammzellen verständlicherweise noch gering. Einige Ärzte haben Stammzellen in krankes Gewebe gespritzt und hatten beim Herzmuskel und auch bei Nerven durchaus Erfolge. Eine US-Gruppe berichtete im Januar, dass Stammzellen bei altersbedingten Erkrankungen der Netzhaut des Auges (Makuladegeneration) das Sehvermögen verbessert haben.
Doch vom Traum der Stammzelltherapie, dem Wachstum neuer Organe aus Stammzellen sind die Forscher noch weit entfernt. Auch deshalb, weil es einige Rückschläge gegeben hat. Stammzellen tragen noch immer ein hohes Krebsrisiko. Wenn man ihr Wachstum im Körper stimuliert, entartet das oft und es bilden sich Tumore.
Das neue Verfahren aus Münster könnte dieses Hindernis aus dem Weg geräumt haben. Im Vergleich zu bisherigen Methoden ist der neue Zell-Kapitän "Brn4" nicht nur verträglicher, sondern in seinen Fähigkeiten positiv eingeschränkt. "Er kann nur genau definierte Gewebetypen bilden – in diesem Fall eben Nervenzellen", erklärt Schöler.
Wie lange es noch bis zum Einsatz im Krankenhaus dauern wird, vermag Schöler natürlich nicht zu sagen. "Aber die Stammzellforschung entwickelt sich rasant", sagt er. Das gestern präsentierte Etappenziel komme etwa zehn Jahr früher als er erwartet habe.