Das Experiment soll kein künstliches Bewusstsein erschaffen, sondern der Pharma-Forschung helfen.
Die neueste spektakuläre Entwicklung der Stammzellforschung misst im Durchmesser weniger als vier Millimeter. Das erbsengroße Objekt wirkt auf den Laien unscheinbar, aber es ist eine kleine Sensation. Wissenschaftler am Institut für Molekularbiologie in Wien haben menschliche embryonale Stammzellen in Gehirnzellen verwandelt. Der Clou: Ihr Produkt verfügt zudem über eine dreidimensionale Struktur, die nach der Beschreibung der Forscher an das werdende Gehirn in einem Embryo der neunten Schwangerschaftswoche erinnert –man könnte es also Mini-Gehirn nennen.
Binnen zwei Monaten wuchsen die Zellen in den rotierenden Bioreaktoren des Team um den deutschen Biochemiker Jürgen Knoblich heran. Dann stoppte das Wachstum, aber das Gebilde starb auch in den folgenden zehn Monaten nicht ab. Nun tobt ein Streit darüber, ob es sich denn wirklich um ein Gehirn handelt. Viele Kritiker erinnern an das Versprechen der Stammzell-Forscher, das vor 15 Jahren in aller Munde war: Sie wollten aus Stammzellen Organe züchten, die kranken Menschen helfen sollen.
Die Skeptiker erinnern an Frankenstein und fürchten ein künstliches Bewusstsein aus der Petrischale. Doch dazu taugt der erbsengroße Zellhaufen aus den Wiener Reaktoren auf keinen Fall. Zwar gibt es Ähnlichkeiten mit dem echten Gehirn im Aufbau und bei einfachen Funktionen, aber es fehlt doch einiges: Die Wiener Zellen können beispielsweise keine Blutgefäße bilden, deshalb dürfte das Innere des Mini-Hirns eine tote Zone sein, denn die Versorgung erfolgt nur durch die äußere Schicht. Zudem wächst ein Gehirn im Embryo nicht einfach so, sondern entwickelt seine Struktur auch am Bedarf des restlichen Körpers, der diesem Objekt aus der Retorte naturgemäß ebenso fehlen muss wie Verstand.
Doch diese Diskussion, die vor allem in Deutschland geführt wird, verfehlt den Kern der Forschung. Die Wiener Forscher meiden in ihrem Artikel in der Wissenschaftszeitung "Nature" den Begriff "Mini-Gehirn", sprechen vorsichtig von "cerebralen Organoiden" und stellen klar, dass sie weder einen Ersatz für das menschliche Gehirn bauen wollen noch das für möglich halten.
Die Faszination dieser kleinen wissenschaftlichen Sensation liegt ganz woanders. 2008 war es erstmals gelungen, funktionierende Gehirnzellen aus Stammzellen zu erzeugen. Jetzt ist es die bemerkenswerte Selbstorganisation der Gehirnzellen, die, wenn sie sich in Ruhe entwickeln können, auch in einem Laborgefäß eine stabile dreidimensionale Struktur bilden. Daraus erhoffen sich die Forscher weitere Erkenntnisse, wie sich das Gehirn im Embryo entwickelt. Deshalb haben die Wiener Wissenschaftler nicht nur aus gesunden menschlichen embryonalen Stammzellen Mini-Gehirne entwickelt, sondern auch aus den Hautzellen von Menschen, die deutlich kleinere Gehirne besitzen (Mikrozephalie).
Das ist nicht neu, denn die Wissenschaft besitzt seit einigen Jahren das Knowhow, Hautzellen neu zu programmieren, damit sie andere Aufgaben übernehmen. Doch die Mini-Gehirne, die aus den Hautzellen eines Mikrozephalie-Patienten entstanden, zeigen schon Entwicklungsunterschiede, selbst wenn sie erst ein paar Millimeter groß sind.
Solche Modellsysteme besaß die medizinische Forschung noch nie. Und sie fehlen. Längst ist klar, dass sich Forschungsergebnisse aus Mäuse-Gehirnen nicht unmittelbar auf Menschen übertragen lassen. Besonders groß sind die Probleme bei der Entwicklung von Medikamenten, deren Einfluss und Nebenwirkungen auf das Gehirn nur schwer zu ermitteln sind.