In der Antarktis geht ein Mammutprojekt zu Ende. Seit Jahren bohren unermüdliche russische Forscher ein Loch. Fast vier Kilometer ist die Bohrung am kältesten Ort der Welt mittlerweile tief – jetzt wird sich entscheiden, ob das Ziel endlich erreicht ist: Die Russen suchen alternative Lebensformen.
Die Begegnung findet in 3750 Meter Tiefe statt – unter dem ewigen Eis der Antarktis. Russische Wissenschaftler haben am kältesten bewohnten Ort der Welt einen Bohrkopf über Jahre in die Tiefe gebracht, zuletzt drei Meter am Tag. Jetzt hat das jahrelange Mühen ein Ende. Das Ziel ist wahrscheinlich erreicht: der Wostok-See.
Ein Gewässer, verriegelt von knapp vier Kilometer Eis. Vermutlich mehr als 200 Kilometer lang. Die Forscher gehen davon aus, dass der See seit 35 Millionen Jahren existiert – völlig unberührt. Er enthält tausende Rätsel – und vielleicht eine besondere Form des Lebens. Eine Spezies, die sich nur dort entwickeln konnte. Fremdartiges Leben auf unserem Planeten?
Noch in dieser Woche werde man sicher wissen, ob die Bohrung ihr Ziel gefunden habe, sagte Valery Lukin am Montag, Leiter des Projektes, dem Wissenschaftsmagazin "Nature". Dann sollen die Proben analysiert sein, die Auskunft geben, ob der Bohrer noch im Eis sitzt oder schon die Oberfläche des Sees erreicht hat. Russische Zeitungen hatten den Erfolg schon verkündigt, doch Lukin bittet noch um Geduld. Davon hatten die Russen bisher genug.
Auf die paar Tage kommt es deshalb jetzt auch nicht mehr an, mag man sagen. Aber das stimmt nicht. Das Bohrteam hat am Montag die Station in der Antarktis verlassen. Die Männer sind derzeit auf dem Eisbrecher "Akademik Fjodorov" auf dem Weg nach Hause – die letzte Verbindung nach Russland. In der Antarktis steht die ewige Nacht bevor. Die Temperaturen werden noch weiter sinken, derzeit werden dort nur minus 40 Grad gemessen.
Wenn Wostok jetzt nicht erfolgreich war, kann es erst Ende November weitergehen. Aber es wird dann weitergehen. So war es jedes Jahr, denn die Russen bohren schon einige Zeit. Das Projekt stand mehrfach vor dem Aus: Die Finanzierung war nicht gesichert, weil keine Bodenschätze zu erwarten sind. Auch die Technik bereitete immer wieder Probleme. 80 Meter vor dem Ziel blieb der Bohrer stecken.
Zwei Männer bleiben im arktischen Winter auf der Station und bewachen das Bohrloch bei Temperaturen von unter minus 65 Grad. So etwas können die Russen am besten, schon seit Jahrzehnten. Für diese Leistung sind sie in der Antarktis-Forschung hoch angesehen.
Die Bohrungen aus Wostok haben sehr viele Informationen über die Entwicklung des Klimas in den vergangenen 300.000 Jahren geliefert. Während der Eispanzer in der Antarktis entstand, wurden die Informationen über unser Klima mit eingefroren. Das Eis als Klimagedächtnis des Planeten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Diesmal geht es um mehr. Um fremdes Leben. Was die Russen in der Antarktis machen, ist vergleichbar mit der Suche nach Wasser bei den Mars-Missionen der USA. Theoretisch können sich in solchen besonderen Öko-Systemen eigene Lebensformen bilden – primitives Leben, also Bakterien oder Mikroorganismen. Beispiele dafür gibt es viele. Auch in bestimmten Vulkangebieten gibt es Bakterien, die sich den äußeren Umständen optimal angepasst haben und in sehr heißen Quellen leben. Sie existieren dort, wo man bisher sagte, ein Leben sei unmöglich. Warum also nicht in dem vergessenen See?
Was dafür spricht: Im Jahr 2004 wurden während der normalen Bohrungen im Eis in etwa drei Kilometer Tiefe bereits Mikroorganismen gefunden. Der See wurde in den 60er Jahren entdeckt.
Das Streben der Russen hat viele Wissenschaftler gegen sie aufgebracht und eine Diskussion um Ethik in der Wissenschaft ausgelöst. Das Horror-Szenario der Gegner: Der mit Silikonölen benetzte Bohrkopf verschmutzt den See und löst ein Massensterben der Bewohner aus. Sie könnten das Schicksal mancher Urvölker erleiden, deren Entdeckung durch Europäer gleich ihr Todesurteil bedeutete.
Die Russen sagen, dass sie diese Sorgen ernst nehmen. Sie haben eine Technik entwickelt, wie der Bohrkopf sauber den See erreichen könnte. Andere Experten haben daran Zweifel – wer recht hat, kann angesichts der Einmaligkeit der Situation niemand sagen.
Für die Russen ist klar, was folgen soll, wenn der See erst einmal geöffnet ist. Sie wollen Proben entnehmen und darin nach Spuren von Erbgut suchen. Diese DNA wäre der sichere Beweis für die Existenz einer wie auch immer gearteten Form von Leben. Später soll ein schwimmender Roboter herabgelassen werden, der Wasserproben und Sedimente vom Boden des Sees sammelt. Im Mai wollen die Forscher ihre Pläne vorstellen – und um Hilfe bei der Finanzierung bitten.
Das russische Projekt wird übrigens nicht das einzige bleiben. Auch die Amerikaner und die Briten haben angekündigt, unter dem Eis Seen anzubohren. Immerhin werden dort 150 Frischwasserseen vermutet.