Im Jahr 2015 sollen eine Milliarde Menschen das Online-Lexikon nutzen. Aber sein Erfinder Jimmy Wales sieht das Potenzial längst noch nicht ausgeschöpft. Steigende Spenden helfen beim Ausbau – das erklärt er im Gespräch.

 

Von Rainer Kurlemann

 

Den Vergleich mit Mark Zuckerberg (Facebook), Bill Gates (Microsoft) oder Larry Page (Google) erwidert der Wikipedia-Gründer gelassen. Es gehe ihm nicht ums Geld, sagt Jimmy Wales, Wikipedia habe andere Ziele. Der 46-Jährige kann das entspannt sagen, natürlich hat er als früherer Internet-Unternehmer finanziell ausgesorgt, auch wenn er kein Milliardär geworden ist, wie viele andere Branchen-Pioniere.

Jimmy Wales besitzt dafür einen anderen Schatz: "Wir bringen Wissen zu den Menschen", betont er. Der freie Zugang zu Informationen sei ein Menschenrecht. Der beste Weg gegen Diktatur und für mehr Demokratie. In seinem Verständnis bedeutet das nicht nur freie Wahlen, sondern vor allem die Transparenz von Entscheidungen für die Bevölkerung. "Wenn mehr Menschen wissen und verstehen, was passiert, wird es weniger totalitäre Systeme geben", sagt Wales, der auf Einladung des Initiativkreises Mönchengladbach in der Reihe "Pioniere der Welt" das Online-Lexikon vorstellte und dabei auch mit uns sprach.

Seit ein paar Jahren verfügt die Wikimedia Foundation über ausreichend Mittel für einen Expansionskurs, der bis zum Jahr 2015 die Zahl der Nutzer pro Monat auf eine Milliarde mehr als verdoppeln soll – das wäre jeder siebte Mensch. Die Stiftung betreibt Wikipedia und andere Internet-Plattformen, die als technische Basis dienen, um das Wissen der Menschheit zu bündeln.

38,5 Millionen Dollar sammelte Wikimedia im Wirtschaftsjahr 2011/12, davon 6,7 Millionen Dollar in Deutschland. Wales ist stolz, dass die breite Masse das Projekt fördert. Zwei Drittel des Geldes stammt von fast 1,5 Millionen Kleinspendern. "Es war die richtige Entscheidung auf Anzeigen zu verzichten", sagt er, "das zeigt die Spendenflut für uns."

Bei Facebook erwartet er dagegen, dass das Social-Media-Netzwerk sich unter wirtschaftlichem Druck von den ursprünglichen Zielen entfernen werde. Seit Wikipedia regelmäßig für ein paar Wochen mit großflächigen Aufrufen in eigener Sache um Spenden wirbt, steht die Stiftung finanziell gut da. Wales stand dieser Werbung erst skeptisch gegenüber, sein Kopf zierte dann doch die erste Kampagne.

Heute kann er davon gelassen erzählen, weil Wikipedia dadurch Freiheiten gewonnen hat und der Aufruf auch ohne das Konterfei der Werbe-Ikone für weltweite Bildung funktioniert. Nur 125 Angestellte sorgen aus San Francisco dafür, dass die global am fünfthäufigsten besuchte Internetseite funktioniert, die sich gern als "Stimme des Welt" (Voice of the world) bezeichnet.

Die technische Plattform und das Servernetz müssen längst für mehr Nutzer ausgebaut werden. Den größten Schub nach vorn dürfte aber eine neue Eingabemaske liefern. Sie soll die Zahl der Autoren bis 2015 verdoppeln, weil das Erstellen oder Verändern eines Artikels keine IT-Grundkenntnisse mehr erfordern wird. Damit wird sich auch das Männermagazin Wikipedia wandeln – Frauen stellen nur 13 Prozent der Freiwilligen, die meist täglich das Wissen in Wikipedia ergänzen.

Tatsächlich geht das Wachstum einher mit seiner Verfügbarkeit. Seit selbst in den ärmeren Ländern der Welt die Preise für Smartphones und deren Nutzung drastisch gesunken sind, vermelden die Großen des Internets steigende Zugriffszahlen. Jimmy Wales, Weltreisender und Online-Botschafter, hat überall die gleichen Erfahrungen gemacht. Google, Facebook, Twitter und Wikipedia gehören sofort zu den beliebtesten Seiten. Dort, wo Informationen bisher Mangelware waren, stehen auch die Nachrichtenseiten der Medienhäuser in den Top Ten. Später erst kämen Verkaufsportale und der Videokanal Youtube dazu. Die Internetnutzung sei weltweit sehr ähnlich, sagt Wales.

Es ist sein persönliches Anliegen, dass die Sprachenvielfalt im Online-Lexikon ausgebaut wird. Wikipedia nutzt bisher vor allem die Sprachen der industrialisierten Welt. "Die werden in den Entwicklungsländern von den ärmeren Menschen kaum verstanden", sagt Wales. Deshalb sollen gezielt Autoren aus asiatischen, afrikanischen, indischen und chinesischen Sprachfamilien gewonnen werden. Wenn Wales davon erzählt, strahlen die Augen unter den vier markanten Falten, die seine Stirn zerfurchen.

Und noch eine Entwicklung gefällt ihm, weil sie auf ihre Art Demokratie fördere: Das technische Rüstzeug der Internetplattformen, die Freiherr zu Guttenberg und Annette Schavan des Plagiats überführten, gehört ebenfalls zur Wiki-Familie.